Angst

Angst


 

Erzählung von Konstanze Breitebner

 

So eine kleine, große Geschichte:

Fast immer beginnen Geschichten so –

Hannas Leben war in Ordnung,

sie hatte den Job, den sie wollte und es gab auch die Chance aufzusteigen,

ihre Vorgesetzte schätzte sie,

ihre Familie war in Ordnung,

alles schien perfekt zu sein und dann eines Tages ... ganz plötzlich ...

streifte Hanna ein Schicksalsschlag,

warf sie aus der Bahn

nichts war mehr so, wie es bis dahin gewesen war.

 

Diese Geschichten zeigen dann diese Hanna, wie sie an dem Tag, der ihr Leben verändern würde, gegen einen Baum fährt, zusammenbricht, oder sonst irgendeiner Katastrophe ereilt wird und für einen Moment bleibt Hannas Leben dann stehen. Ein langer Moment wabert dann durch Hannas Wahrnehmung, meist sieht sie sich dann in kurzen Schnappschüssen, die ihr Leben erzählen, als Baby, als Mäderl, mit Mama und Papa und auch Oma und Opa. Und irgendwann auf dieser wabernden Erinnerungsreise landet Hanna dann im Hier und Jetzt. vielleicht beugt sich eine Krankenschwester besorgt über Hanna. Und dann ist es in diesen Geschichten so, dass der Kampf beginnt, aber die Protagonistin wird nie wieder in das Leben zurückkehren können, welches sie zuvor gelebt hat. Etwas wird sich geändert haben, dieser Schockmoment, der zu Beginn der Geschichte über Hanna hereingebrochen ist, hat nämlich einen Sinn, er ist der Angelpunkt um den herum sich ein Leben ändert, ein Mensch Erkenntnisse sammeln darf. Und am Ende dieses Tunnels steht natürlich das Glück.

 

Weil diese Geschichten uns erzählt werden, damit wir bei der nächsten Katastrophe in unserem eigenen Leben denken können – ja, da findet jetzt der Beginn einer Reise statt, so wie bei Hanna im Film, die am Ende glücklich wird. Mir ist jetzt auch gerade das Dach auf den Kopf gefallen oder ein blöder Baum am Wegesrand gegen mein Auto geknallt, ich liege auch in der Intensivstation und wann immer ich zu mir komme, jagen Schmerzen durch meinen Körper, die ich niemals auch nur erahnt habe, aber ich erinnere mich jetzt an Hannas ... oder wie sie alle heißen ... Geschichte und weiß, am Ende dieses Irrsinns, dieses Hurrikans leuchtet ein warmes Licht und ich werde glücklich sein.

 

Das was mir gerade passiert ist eine Prüfung, ein Übergangsstadium und danach wird es mir richtig gut gehen. Das muss ich einfach nur durchstehen.

 

Das stimmt aber alles nicht! Diese Geschichten sind ganz falsch!

 

So plötzlich von einem Moment zum anderen passieren die Dinge des Lebens fast nie.

Auch wenn dich ein Querschläger trifft, gibt es eine Vorgeschichte.

Krankheiten brechen überhaupt nicht einfach so über dich herein. Da gab es eine Schwäche, da hast du dich jahrelang nicht angemessen verhalten, da gab es Schritte, Anzeichen, Vorzeichen, unbewusst, bewusst übersehene Stoppschilder, überhörte Warnsignale, so Vieles, was man hätte wahrnehmen müssen.

 

Dieses

„Plötzlich war alles anders!“

gibt es im wirklichen Leben nicht.

 

Hanna! Du meine Güte, Hanna! Sie hätte doch schon so lange etwas bemerken müssen. Hanna ist sehr klug, sie denkt in Zusammenhängen und sie war schon als Schülerin überdurchschnittlich gut, weil sie Vieles durchschaut hat. Stringent denken, perfekt assoziieren, intelligent verbinden, Brücken bauen, Zusammenhänge erkennen, das war Hannas Domäne, das konnte sie wirklich. Sie wusste schon am Ende der Schulzeit, dass sie unterrichten würde, sie konzentrierte sich auf das Studium, segelte mit großer Leichtigkeit durch alle Prüfungen, weil sie ja wusste, wo die Reise hinging. Es war nur so, dass es in diesem Studium wesentlich mehr zu lernen gab, als in einen Kopf in dieser Zeit hineingeht.

 

Vielleicht war das der Punkt gewesen, wer weiß. Hanna erschrack damals kurz aber heftig, weil sie nicht genug Zeit haben würde, um die Leseliste zu bewältigen. Dass diese Liste nur ein Vorschlag war, aus dem jeder Studierende sich seine eigene Wegstrecke heraussuchen musste, hat Hanna ganz einfach übersehen.

 

Und möglicher Weise hatte sie da das erste Mal dieses Gefühl, „es“ einfach nicht schaffen zu können. Was als Beruhigung konzipiert worden war – seht her liebe Studenten: das alles gibt es, sucht euch mal raus, was für euch wichtig ist, gestaltet das Studium wenigstens in dieser Richtung individuell – fiel bei Hanna wie ein dickes Saatkorn auf einen Boden, der ganz andere Früchte hervorbringen würde. Hanna meinte, dass sie alles hätte lesen müssen. Pragmatisch, wie sie nun mal war, wusste sie sofort, dass das unmöglich war, das Studium hätte dann doppelt so lange dauern müssen. Sie warf sich in diese Bücher, schaffte sehr, sehr viel und war überdimensional gut gerüstet für die Prüfungen und bestand dieselben auch mit Bravour.

 

Das Gefühl, nicht alles geschafft zu haben, blieb trotzdem in ihr haften und vergiftete fortan alles, was sie erfolgreich bewältigte. Eigentlich konnte sie sich nie richtig freuen über einen Erfolg, stets war da tief drin die Stimme, die ihr zurief: aber das und das und das hast du noch nicht gemacht, das und das und das weißt du noch nicht.

 

Solche Zweifel sind bohrende Würmer. Kaum hast du irgendeine Stufe erreicht, schon beginnt der Boden unter dir wieder zu schwanken, weil du das Gefühl hast, nicht gut genug zu sein. Und die anderen? Denen gestehst du ganz selbstverständlich alle Fehler zu, für die du dich selbst verachten würdest. Das ist Teil der Geschichte!

 

Teil der Geschichte, die eben viel früher beginnt, als in dem Moment, in dem du stürzt.

 

Hanna also bestand alle Prüfungen und wurde Lehrerin in einem Gymnasium. Die Schülerinnen liebten sie. Ihre Deutschstunden waren Ereignisse und in Bio johlten die Schüler, weil Hanna einfach eine tolle Show zu bieten hatte. In diese Phase fällt auch die Begegnung mit Ferdinand.

 

Ferdinand – ein wundervoller Mann der neuen Generation, der Hanna das Gefühl geben kann, eine Frau zu sein, ohne Machogehabe, welches noch die Vorgängergeneration für unabdingbar hielt. Ein hübscher Mann, ein intelligenter Mann, einer, den sich jede Frau ab und zu gerne mal vom Bau pflücken möchte. Und gerade der schaute Hanna tief in die Augen, umarmte, küsste, vögelte sie, so wie es wundervoll ist und dann lächelte er und meinte, nun gut mein Mäuschen, wenn du´s gerne willst ... heiraten wir. Wenn du´s gerne willst ... wurde zum geflügelten Wort zwischen Hanna und Ferdinand.

 

Heiraten war für Hanna bis zu diesem Zeitpunkt völlig uninteressant. Aber mit Ferdinand war das dann passend. Plötzlich wollte sie heiraten, plötzlich wollte sie gefragt werden und ja ... plötzlich wollte sie´s gerne und ihr ja sollte auch gelten. Ferdinand nahm sie ernst! Die Hochzeit war gelungen. Da waren die Freunde, die die beiden wollten, da war gerade ausreichend Eltern und Schwiegereltern Anwesenheit, da waren Blumen und Sonnenschein und guter Wein und Tanzmusik und Schampus und eine Hochzeitssuite. Ja, Hanna und Ferdinand waren ein hübsches, glückliches Paar. Warum nicht? Warum soll gerade diese Ehe nicht funktionieren?

 

Hanna stand am Hochzeitsmorgen auf dem Balkon des überaus netten Hotels und guckte in die frühmorgendliche Welt, atmete durch und fand, dass alles gelungen war. Wenig später überreichte der wunderbare Ferdinand sogar die traditionelle Morgengabe: eine wirklich teuren Ring. Genau den Ring, den Hanna so begeistert betrachtet hatte, damals vor Monaten, damals in der nicht verheirateten Zeit.

 

Schönes Leben beginne! Sie hatten es schön, sie lachten und alles war so easy. Ferdinand machte sich selbstständig mit einer kleine IT Firma, Hanna überbrückte die Monate, in denen er nicht verdienen konnte, sie hatten ein Konto, wer das befüllte, war doch wirklich egal.

 

Hannas Direktorin beobachtete sie, erkannte sich selber wieder, rechnete kurz mal nach und beschloss: ich habe es so schwer gehabt, diese Kollegin soll es mal leichter haben. Die gute Dame ließ keinen Zweifel daran, dass Hanna ab nun gefördert wurde. Hanna nickte, ok, dem werde ich gerecht. Auch wenn ich gerade alles zusammenkratzen muss, damit mein Mann seinen Weg gehen kann, ich werde es schaffen.

 

Ferdinand ging seinen Weg. Seine Firma war extrem erfolgreich und er konnte doppelt so viel ins Familienunternehmen zurückgegen, als er herausgenommen hatte. Gut, sehr gut, extrem gut, weil ... Hanna war schwanger, Hanna gebar einen Sohn und wollte nicht sofort wieder arbeiten. Stillende Mütter müssen sich von Natur aus um ihr Kind wickeln. Jeder, der größer, unabhängiger, selbstständiger ist, wird einfach mit einem großen Schleier verhängt. Weil sich eine stillende Mutter nicht fortbewegen kann, weil diese Frau genau dort sitzt und mit all ihrer Kraft, mit ihrer Existenz eben ein Baby stillt. Aus. Mehr ist nicht drin. Und deshalb wollte Hanna auch nicht sofort wieder in die Schule zurück. Um den kleinen Nik herumtanzen, sich seinen Bedürfnissen widmen, das war nun ihr Inhalt. Sie war gut vorbereitet, sie hatte ein perfektes Nest gebaut und Windeln in allen Größen eingebunkert. Pädagogisch wertvolles Holzspielzeug für jede Entwicklungsstufe stand bereit.

 

Hanna versorgte ihre Männer hingebungsvoll. Dieser Mama/Hausfrau Job war ganz schön anstrengend, manchmal sehnte sie sich nach dem gut eingeteilten, übersichtlichen Tagesablauf im Gymnasium. Das war anstrengend gewesen, aber wenn sie die letzte Arbeit korrigiert hatte, konnte sie das Heft zuklappen und beiseite legen und dann war Freizeit, dann war Ruhe, dann war der Job eben erledigt. Das gibt es für eine Babymama nie. Und die Hausfrau ist ohnedies immer hinten nach. Wenn sie den Anspruch hat, das berühmt, berüchtigte, gemütliche Heim für Mann und Sohn zu schaffen, hat sie keine Chance. Von Anfang an nicht. Weil sich das gegenseitig ausschließt! Ordnung und Baby, Ruhe und Baby, regelmäßiges Essen, saubere Wäsche und Baby, das ist ganz einfach nicht durchzuziehen. Weil ein Baby ein Anarchist ist, weil ein Baby sich niemals an Termine hält, warum sollte es das auch?

 

Aber Ferdinand kam abends nach Hause, abgekämpft, leer und völlig überdreht und hatte keine Aufmerksamkeit mehr für seine abgekämpfte, leere, völlig überdrehte Ehefrau. Hanna hatte sich das alles so schön vorgestellt, schaffte es aber immer seltener, aus der angesauten Jogginghose heraus und in irgendein normales Kleidungsstück hinein zu schlüpfen, um einen halbwegs ansehnlichen Anblick zu bieten. Ferdinand war zu müde, um das zu bemerken, Hanna jedoch war verzweifelt. Sie hatte diese Muttis immer verachtet!

 

Vielleicht tappte gerade Hanna in diese Falle, weil sie als Lehrerin so oft mit dem Ergebnis schlecht funktionierender Elternhäuser konfrontiert gewesen war. Immer wieder hatte sie sich Sorgen um Schüler gemacht, die scheinbar niemanden zu Hause hatten, die allein zurecht kommen mussten, deren Eltern nie in die Sprechstunden kommen konnten oder wollten. Diese Kinder waren oft gut ausgestattet, die neueste Schultasche, die schicksten Klamotten, aber innerlich schienen sie so bedürftig, so verwirrt zu sein. Hanna hatte immer wieder den Impuls, so einen verwirrten Jugendlichen in die Arme zu nehmen, einfach mal Ruhe, Durchatmen, Anlehnen zu gewähren. Wenn sie nachfragte, waren diese Kinder zumeist schon ganz früh in Betreuung gegeben worden, hatten die Krabbelgruppe, Tagesmutter, Kindergarten, Hortbetreuungskarriere hinter sich.

 

Deshalb stellt Hanna wohl auch dermaßen überhöhte Ansprüche an sich. Ihr Sohn sollte eine gute Basis bekommen, ihr Sohn sollte nicht wohlstandsverwahrlost in irgendwelchen Förderkursen und Nachhilfeinstituten landen, später einmal, wenn so vieles bereits geprägt und festgelegt ist in einem Menschen. Das war die eine Hälfte des Anspruchs!

 

Die zweite Hälfte galt Ferdinand. Hanna hatte sich geschworen, sich niemals gehen zu lassen, sie wollte für ihren hübschen Mann auch immer hübsch sein, sie wollte unbedingt einen schönen Anblick bieten, gepflegt, durchtrainiert, sexy und interessant. Das alles war aber völlig unmöglich geworden, seit das Baby im dritten Monat zu schreien begonnen hatte. Stundenlang, nächtelang, tagelang.

 

Ferdinand konnte da nicht mithelfen, er brauchte seine Energie für den Arbeitstag. Der internationalen Entwicklung folgend, blieb auch seine kleine, feine Firma nicht intakt, nachdem die IT Blase rund um den Globus implodiert war. Ferdinand musste immer länger arbeiten, Leute entlassen, unbezahlte Angebote erstellen, den Wettbewerb annehmen, sich in den rauen Wind des freien Marktes stellen und ganz früh aufstehen, damit seine Firma weiterbestehen konnte und er Geld nach Hause bringen konnte.

 

Also wurde die Familie auseinander dividiert – Ferdinand an einem Ende der Wohnung, Hanna und das Brüllbaby am anderen. Schließlich ließ Ferdinand sogar die Tür zu seinen Schlafkämmerchen polstern, um wenigstens ein paar Stunden Ruhe zu bekommen.

 

Hanna ging mit dem Kleinen durch die Wohnung, schaukelte ihn, fütterte ihn, streichelte und massierte ihn und scheiterte. Ihre Kraft schien aus ihr herauszulaufen, wie Wasser aus einem lecken Tank. Was auch immer sie sich ausdachte, wie tief sie auch atmete, um Ruhe zu verströmen, Nik brüllte. Nun wusste Hanna nur zu gut, dass Babys Unruhe, Sorgen, Ängste und Aggressionen ihrer Mütter spüren, dass sie oft ausdrücken, was die Mama hinunterschluckt, dass eine ruhige, ausgeglichene Mami die beste Medizin für einen Säugling war. Bloß: Hanna war das nicht mehr, so als ob sie mit jedem neuen Versuch nur noch tiefer in den Abgrund stürzen würde. Wenn Nik dann mal schlief, saß Hanna heulend da. Allein im dunklen Zimmer, immer in Angst vor den Alarmtönen aus dem Babyphon quälte sie sich mit Vorwürfen. Sie war einfach eine Mama, die versagte. Andere Mütter kochten Fencheltee oder lernten Leboyer Massage und hatten alsbald einen süßen, fetten Wonnepropen, der nächtelang durchschlief.

 

Dass Ferdinand sich in dieser Zeit veränderte, hat Hanna leider auch übersehen. Er hatte große Probleme in der Firma, wagte aber nicht, seiner Frau davon zu erzählen, weil die ja ohnehin mit dem Problemsohn genug am Hals hatte. Gemeinsame Momente gab es in dieser Phase kaum.

 

Dann endlich meinte der Kinderarzt, dass Niks Verhalten nicht normal sei, dass man den Kleinen mal durch checken musste. Hanna war kurz erleichtert. Es war also nicht ihre Schuld, dass das Baby so brüllte, irgendwas war nicht in Ordnung, die Ärzte würden herausfinden was es war, Medikamente, Therapien verschreiben und damit würde das Problem endlich gelöst werden. Hanna hatte bemerkt, dass Nik nicht sitzen konnte, er war längst alt genug dazu, aber er rutschte immer noch zur Seite, manchmal wanderte sein Blick dann auch so seltsam nach oben und mit den ersten „Worten“ die nur die Mami versteht, hatte er auch noch überhaupt nichts am Hut. Obwohl entwicklungspsychologisch längst die Zeit gekommen war, in der Babys zu brabbeln beginnen, pfauchen, zischen und die Sprache der Mama imitieren.

 

Schon als der Arzt auf sie zu kam, erstarrte Hanna. Der kleine Nik war durchgescannt worden, CT, Röntgen, Bluttests, alles hatte man mit ihm gemacht. Und da war etwas! Hanna konnte es in den Augen des Arztes lesen. Ihr Sohn war nicht normal, da war etwas, das schwer zu ertragen sein würde, Hanna spürte, wie sie innerlich vom Kopf abwärts erfror. In Sekundenbruchteilen, war sie vereist und spürte nichts mehr. Niks Gehirn entwickelte sich nicht normal, er war behindert. Er würde immer zurückbleiben, nie vollständig erwachsen werden, immer auf einer kindlichen Entwicklungsstufe stehenbleiben, niemals intelligent sein. Er würde die Sprache nur rudimentär erlernen, er würde niemals ein Gedicht schreiben, Lieder komponieren, in Vaters Firma einsteigen können.

 

Nik wird immer fröhlich sein, viel lachen und wütend werden, wenn er bemerkt, dass die anderen Kinder geschickter sind als er. Aber seine Entwicklungsmöglichkeiten sind begrenzt.

 

Hanna saß da, immer noch erstarrt, streichelte ihrem Söhnchen über die blonden Flaumhaare und fühlte nichts. Sie sagte sich, dass sie doch jetzt verzweifelt sein müsste! Warum flossen keine Tränen über ihre Wangen? Warum rief sie nicht verzweifelt nach Hilfe? Warum bettelte sie den lieben Gott denn nicht an, dass dies alles nur ein böser Traum sein möge?

 

Erstaunt stellte sie fest, dass es genau umgekehrt war: sie erwachte soeben aus einem Traum. Die Jahre bisher, die glückliche Ehe, das schöne zu Hause, das süße Baby – dieses ganze Leben war unwirklich gewesen. Jetzt sah sie klar, jetzt war sie in der Realität angelangt. Ruhig und konzentriert hörte sie der Entwicklungspsychologin zu, die ihr erklärte, wie der kleine Nik sich weiterentwickeln würde, wie man ihn fördern und unterstützen konnte, was er brauchen würde und wie die Eltern für eine lebenslange Betreuung vorsorgen konnten.

 

Früher war der Himmel offen gewesen und es hatte unendlich viele Möglichkeiten gegeben, Hanna hätte sich nach links oder rechts wenden können, sie hätte auch entscheiden können, kurz stehen zu bleiben und dann in großen Sprüngen vorwärts zu sprinten. Jetzt war der Horizont klar abgesteckt, der Weg absehbar vorgezeichnet und eingegrenzt. Da so vieles unmöglich geworden wurde, beugte sie ihren Kopf und hob den Blick einfach nicht mehr. So fand Ferdinand sie dann auch zu Hause vor. Hanna saß stumm da, Nik spielte fröhlich gurgelnd zu ihren Füßen. Die beiden boten ein seltsam friedliches Bild. An diesem Abend gab es kein Problem mit dem Einschlafen, da man Nik ein leicht sedierendes Medikament verschrieben hatte. Da lag er, wie ein Engel, seit langem einmal entspannt und ruhig atmend.

 

Hanna erklärte ruhig und vernünftig, was sie nun wusste und wie nun alles seinen Lauf nehmen würde. Ferdinand war verzweifelt, er weinte, er konnte nicht aufhören, den Kopf zu schütteln.

 

Nik brauchte spezielle Therapie und bald war klar, dass die Familie mehr Geld brauchen würde. Hannas Direktorin war hocherfreut, die Kollegin so schnell wieder im Team zu haben, zunächst nur mit halber Lehrverpflichtung, aber sie war zurück. Hanna brachte den Kleinen in eine Therapie Kindergrippe und raste in die Schule. Ferdinand konnte den Jungen dann mittags abholen und warten, bis die Mama nach Hause kam. Was er während des Tages versäumte, musste er Abends, oft Nachts nachholen, das Leben wurde durch getaktet, jede Minute schien verplant, es durfte einfach keine Verzögerungen geben, damit Nik von Anfang an die beste Förderung erhalten würde. Sein Lächeln war herzzerschmelzend. Seit er die Medikation bekam war er immer fröhlich, kein Gebrüll mehr, keine unverständlichen Wutausbrüche mehr.

 

Hanna raste durch diese Tage, die Wochen vergingen, kaum merklich glitten die Jahreszeiten vorüber. Sich auf ihre Schüler zu konzentrieren half ihr, es war so, als ob sie diese enge Wirklichkeit wie ein Korsett abstreifen konnte, sobald sie das Schulgebäude betrat. So begann eine ruhige Phase in ihrem Leben. Nur Nachts, wenn sie neben Ferdinand aufwachte, weil sie immer noch darauf wartete, wieder einmal von Niks Gebrüll geweckt zu werden, fühlte sie irgendetwas Kühles in sich hochkriechen. Sie hätte nicht sagen können, was es war. Und dieses Gefühl dauerte nie lange, es war nur kurz da und löste eine heftige, laute Angst in ihr aus. Das hatte sie aber Sekunden später wieder im Griff, dann drückte sie sich nahe an Ferdinand, zog seinen Arm um sich, wie ein Schutzschild und konnte auch wieder gut einschlafen.

 

Einige Zeit ging das gut. Manchmal hatte Hanna sogar den Eindruck, ihren kleinen Sohn, der nun viel zu spät, aber immerhin doch, zu krabbeln begann, dass sie dieses Menschlein doch lieben konnte. Sie war erleichtert, weil sie sich insgeheim schon bezichtigt hatte, ein Monster zu sein. In dieser Zeit entwickelte sie einen inneren Dialog, eine Art mit sich selbst zu sprechen, wie sie es vorher nicht gekannt hatte. Diese Stimme, die zu ihr sprach war laut und deutlich. So als ob eine zweite Hanna neben ihr stünde. Diese Hanna war die Vernünftige, Realistische, Pragmatische, die alles relativ distanziert betrachten und bewerten konnte. Sie beschrieb den zurückgebliebenen Sohn ohne irgendetwas zu beschönigen, sie rechnete vor, was Hanna verdienen musste, wann sie schlafen gehen oder essen sollte, damit die Organisation rund laufen konnte.

 

Ferdinand bekam in dieser Zeit die Chance, in einer anderen Firma als Geschäftsführer einzusteigen und griff sofort zu, ohne Hanna in diese Entscheidung miteinzubeziehen. Er sah nur die Möglichkeit, mehr Geld zu verdienen und vergaß darüber, dass er ab nun nicht mehr frei über seine Zeit bestimmen konnte. In der neuen Firma konnte er nicht Nachts nachholen, was er unter Tags versäumt hatte, weil er Nik betreute. Und so stand die Familie plötzlich vor dem Problem, dass Nik zusätzlich Betreuung brauchte. Hanna starrte nur kurz vor sich hin: das war das erste Mal in ihrer Ehe, dass ihr Mann sie mit einer Entscheidung einfach konfrontierte. Bis dahin hatten sie solche Dinge immer besprochen, sie war immer Teil des Entscheidungsprozesses gewesen und er hatte umgekehrt immer gewusst, warum sie dies oder jenes tat. Oder eben ließ. Nun war eine Tatsache geschaffen und Hanna musste sich danach richten. In diesem Fall bedeutete es für sie, dass sie innerhalb kürzester Zeit eine Mitarbeiterin, eine Betreuungsperson organisieren musste. Ferdinand konnte sich darum nicht kümmern, weil er seine neue Freizeit ab nun in der Firma, die er gegründet hatte, verbringen musste.

 

Ferdinand wohnte ab nun mehr oder weniger in seiner Firma, er musste sie umstrukturieren. Die Mitarbeiter mussten sich ihm anpassen. Wer das nicht konnte, wurde ersetzt. Zum ersten Mal handelte Ferdinand als Chef, bis zu diesem Zeitpunkt hatte er auch in seiner Firma alle Entscheidungen besprochen und für die Mitarbeiter nachvollziehbar gestaltet. Doch diese gravierende Änderung wurde den Mitarbeitern einfach mitgeteilt.

 

Hanna hatte zunächst ihre Mutter gebeten, für ihren Mann einzuspringen. Das ging eine Zeit lang gut. Probleme zeigten sich jedoch recht bald, weil die alte Dame eine nervtötende Besserwisserin war. Egal, was Hanna tat oder ließ, wenn es um den kleinen Nik ging, wusste die Oma einfach immer genau, was gut war. Sie beanspruchte sehr bald das Monopol über den kleinen Burschen, weil sie verhältnismäßig viel Zeit mit ihm verbrachte und vor allem einen regelmäßigen Austausch mit den Therapeutinnen hatte. Hanna betrachtete ihr Söhnchen und die innere Stimme gab der Oma recht: Hanna wusste nicht mehr so genau, was der Bub mit seinen Geplapper und Gegrunze ausdrücken wollte. Sie war sogar unsicher, ob er nun grundsätzlich gut drauf war oder vielleicht so seinen Unwillen ausdrückte? Mochte er die Oma überhaupt? War er glücklich? Er hatte sich angewöhnt, den Kopf hin und her zu wiegen und dazu eine Art Summen von sich zu geben. Hanna wusste nicht, was das bedeuten sollte?

 

Hanna wurde immer unsicherer. Die innere Stimme wurde immer lauter. Sie wurde fordernder und machte Vorwürfe: Hanna sollte sich mehr bemühen. Wenn sie ein bisschen früher aufstehen würde, hätte sie ein bisschen mehr Zeit mit Nik, ehe sie ihn in die Fördergruppe bringen musste. Wenn sie sich besser konzentrierte, konnte sie die Vorbereitungen für den Unterricht der nächsten Woche rascher beenden. Und dann würde sie mehr Zeit fürs Kochen haben. Eine Diätassistentin hatte Hanna und Ferdinand zum Gespräch gebeten. Es gab neueste Erkenntnisse, dass man Kinder in diesem Alter durch eine bestimmte Ernährung unterstützen musste. Damit konnte die Entwicklung des Gehirns anscheinend beeinflusst werden. Also kniete sich Hanna in die Kochbücher, kaufte Vorräte ein und kochte. Manchmal nachts um vier, wenn es denn sein musste. Dass Ferdinand an all dem nicht Teil nahm, war ihr gar nicht aufgefallen. Er arbeitete schließlich rund um die Uhr und verdiente das Geld, dass in diese spezielle Ernährung fließen musste. Und die Oma nörgelte und kritisierte an Hanna herum.

 

Und die innere Stimme befahl, dass Hanna sich einfach noch ein bisschen mehr anstrengen sollte. Die langen Sommermonate, in denen Lehrer frei haben, nützte Hanna, um mit Nik in die Berge zu fahren, dann flog sie mit ihm nach Florida zur Delphintherapie und anschließend gab es an der Nordsee ein Camp, in dem die frühkindliche Sprachfähigkeit gecoacht wurde. Am Ende des Sommers bemerkte Hanna, dass sie Ferdinand wochenlang nicht gesehen hatte. Das fiel ihr nur auf, weil ein Hotelangestellter wissen wollte, wo denn ihr Mann sei? Man hatte eine Überraschungsparty für eines der Kinder organisiert und wollte nun planen, wie viele Erwachsene teilnehmen würden.

 

Mein Mann? Hanna schüttelte nur den Kopf, Ferdinand hatte wohl den ganzen Sommer durchgearbeitet. Sie hatte sogar vergessen, wann sie das letzte Mal miteinander telefoniert hatten. Sie rief ihn an und verlangte, dass er sofort zur Familie kommen sollte und es schien so, als ob Ferdinand auf diesen Befehl gewartet hatte. Sobald er nur konnte, stand er da, in den Dünen und Hanna konnte ihm um den Hals fallen. Sie hatten einander sehr vermisst. Nik kam hinzu. Er wusste nicht genau, wer der Mann war. Rasch überspielte Hanna diese Situation, dass Nik seinen Papa nach zwei Monaten nicht mehr wiedererkennen konnte. Später dann, als sie einen Spaziergang am Strand im Vollmondlicht unternahmen weinte Ferdinand. Er war so erschöpft, so allein, so enttäuscht. Der kleine Junge war doch der Grund für dieses Gestrampel und der hatte ihn nicht wieder erkannt? Dass seine Frau auch einsam war, dass er sie hätte in die Arme nehmen, küssen und ins Bett tragen sollen, vergaß Ferdinand in diesem Schmerz und Hanna wagte nicht, von ihren Bedürfnissen zu sprechen.

 

Und so geriet das Leben immer mehr in eine Schieflage. Die Oma musste irgendwann durch eine professionelle Pflegerin ersetzt werden, weil sie zu viel Energie abzog mit ihren ewigen Vorwürfen. Hanna war wieder Vollzeit Lehrerin und Ferdinand gründete die dritte Firma. Er war Manager geworden, regierte ein kleines Imperium und übernahm schließlich die Firma, die ihn zunächst als Geschäftsführer angeheuert hatte. Ferdinand brachte wirklich viel Geld nach Hause, er war sehr gut. Hanna fühlte sich schuldig, weil sie und der kleine Nik so viel Geld gebraucht hatten, ihretwegen hatte Ferdinand seine Träume von dem Kreativpool, den er gründen wollte, aufgegeben. Hanna arbeitete wie eine Verrückte. Sie würde niemals so viel verdienen können, wie ihr Mann, aber Erfolg konnte sie sehr wohl haben, Karriere machen, Macht erreichen, innerhalb klar abgesteckter Grenzen.

 

Nik wuchs heran, für seine Verhältnisse prächtig, die Förderprogramme hatten sich bezahlt gemacht, er war weiter als so manch anderer geistig Behinderter. Darauf hätten seine Eltern stolz sein können, immerhin hatten sie alles nur Erdenkliche getan, um das Kind zu unterstützen. Nik war nun 12 Jahre alt. So alt, wie Hannas Schüler. Das war das Problem. Jeden Tag sah Hanna viele Stunden lang, was ihrem Sohn fehlte, wo er zurückgeblieben war. Und sie wurde bitter: da gab es so viele Burschen, die mit ihren Begabungen und Talenten Schindluder trieben, Bier in sich hineinschütteten, anstatt ihr gut funktionierendes Gehirn zum Lernen zu benützen. Hanna war nicht mehr so beliebt bei den Schülern, aber sehr erfolgreich, ihre Klassen waren immer die besten bei Tests. Die Direktorin meinte, nun wäre es aber endlich an der Zeit, den nächsten Karriereschritt zu tun. Hanna hatte schon 5Jahre als Schulmediatorin geackert, war Koordinatorin im Bezirk und leitete die Lehrerkonferenz.